Lebenslauf? – nein Danke
Viele Unternehmen kannibalisieren sich und den Arbeitsmarkt aktuell immer mehr im Kampf um die
spannendsten Talente von heute und morgen. Fach-, Führungskräfte und Spezialisten werden angeworben bzw. vom Wettbewerb abgeworben und qualifiziert. Zwar gab es das Abwerben spannender Talente und Berufserfahrenen schon immer und doch führt die Art und Weise der aktuellen Recruiting Maßnahmen vieler Unternehmen dazu, dass sich Branchen wie beispielsweise im Bereich von SAP-Beratungen, zunehmend kannibalisieren.
Durch das Abwerben der Mitarbeiter* von Marktbegleitern wird lediglich eine kurzfristige Verlagerung der Workforce, von einem zum anderen Unternehmen, bewirkt. Eine Erweiterung des Marktes um qualifizierte Arbeitnehmer* bleibt aus. Die Qualifizierung von Quereinsteigern ist nach wie vor sehr teuer und kann meist nur von größeren Unternehmen nachhaltig umgesetzt werden. Kleine Unternehmen fischen dagegen in der Regel immer im selben Teich, um dem eigenen Team frisches Blut hinzuzufügen. Spezialisten* und Kandidaten* die den in der Regel sehr umfangreichen Anforderungsprofilen entsprechen, befinden sich meist in unmittelbarer Nähe, beim Mitbewerber.
Vor vielen Jahren gemerkt ich bereits, dass dem skill-basierten Recruiting, besonders mit Fokus auf Soft-Skills nur sehr wenig Aufmerksamkeit zukommt und es zukünftig einer vollkommen anderen Herangehensweise im Bereich der Personalbeschaffung bedarf. Durch den demografischen Wandel und die unaufhaltsame Digitalisierung wird sich der Arbeitsmarkt zunehmend und ebenfalls unaufhaltsam zu einem Bewerbermarkt entwickeln, in dem sich die jeweiligen Protagonisten neu aufeinander einstellen müssen.
In der jetzigen Form des Recruitings basieren Entscheidungen meist noch auf einen entsprechend hohen prozentualen FIT von hard facts. Stellenausschreibung sind sehr spezifisch und sollen von ebenfalls sehr spezifischen Informationen aus dem Lebenslauf des Bewerbers* bedient werden. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass jemand gänzlich auf eine ausgeschriebene Position passt, ist trotzdem relativ gering. Viele firmenspezifische und entsprechend relevante Eigenschaften oder Produktkenntnisse können trotz hoher Passung des Kandidaten* nicht vorliegen, sodass der neue Mitarbeiter trotzdem eine lange und aufwendige Qualifizierungsphase durchlaufen muss.
Das aktuelle System ist, was den SOLL – IST Vergleich angeht, jedoch komplett überfordert. Hard Facts werden mit Hard Facts verglichen und in seltensten Fällen wird geschaut, ob der Kandidat* durch die bereits vorhandenen und meist sehr ausgeprägten soft skills auf die ausgeschriebene Position passt.
Deshalb propagieren wir von den hrXperts schon sehr lange, dass eine soft-skill-basierte Suche nach neuen Mitarbeitern mittelfristig der bessere Weg ist. Faktoren wie die Lern- und Leistungsbereitschaft oder der Umgang mit erfolgskritischen Einflüssen ist demnach wichtiger als beispielsweise der bereits 15 Jahre zurückliegende Schulabschluss oder Basis-Kenntnisse in SAP R3. Wer jedoch den Soft-Skills im Recruiting-Prozess eine größere Bedeutung zuführt, wird Vakanzen oftmals sehr viel zielführender besetzen, Mitarbeiter binden und aktiv Employer Branding betrieben.
Ein gutes Beispiel hierfür ist ein neuer, sehr impulsiver und emotionaler Mitarbeiter* für ein bereits sehr unruhiges und temperament-volles Team. Hier ist eine Nachbesetzung bereits vorprogrammiert. Der neue, im Bereich der Soft-Skills ähnlich gelagerte, Mitarbeiter*, welcher ggf. schon etliche Jahre Erfahrung aus dem Bereich mitbringt kann sich in kürzester Zeit zu einer Fehlbesetzung entwickeln. Trotz der geforderten Erfahrung wird an dieser Stelle für keinerlei Entlastung gesorgt. Hierbei macht es an der Stelle viel mehr Sinn einen ruhigen, rationalen Pol zu rekrutieren, welcher allein durch die vorhandenen Soft-Skills für eine Heterogenität sorgt und so auch ganz automatisch für eine geringere Fluktuation im gesamten. Fachliche Qualifizierungsmaßnahmen werden über die Zeit geringer sein als weitere Personalbeschaffungskosten.
Es gibt heute Systeme und Tools, die die Recruiter bereits dabei unterstützen, genau solche Ansätze umzusetzen. Eignungsdiagnostiken von Kandidaten, bereits frühzeitig im Auswahlverfahren verankert, helfen dabei im Entscheidungsprozess für eine nachhaltige Besetzung.
In gewissen Fachbereichen benötigt man natürlich nach wie vor die fachliche Expertise. Auch die harten Fakten werden weiterhin eine große Rolle spielen. Sucht ein Unternehmen einen Tischler* wird es kaum einen Elektriker* einstellen. Suche ich einen Kieferchirurgen, werde ich auch kein Augenarzt rekrutieren. An dieser Stelle führt kein Weg vorbei an den wichtigsten Hard Facts. In Teilbereichen, in denen ein sehr starker Fachkräftemangel herrscht, kann man jedoch einem Schlosser* durchaus die Perspektiven eröffnen, vorhandene und tiefgreifende handwerkliche Fähigkeiten anderweitig einzusetzen und zu integrieren. Hierbei höhere Kosten bei der Qualifizierung wirken sich oft wirtschaftlich positiver aus als regelmäßig hohe Kosten in der Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern in der Personalbeschaffung.
In vergangenen Projekten konnten wir beispielsweise sehr erfolgreich Bauleiter für die Bauindustrie gewinnen, in dem wir Handwerkspezialisten gesucht haben, die die Prozesse und die Eigenheiten auf Baustellen sehr gut verstehen und beherrschen. Fehlende Kenntnisse in spezifischen Gewerken können durch einen nachhaltig strukturierten Knowledge-Transfer in kürzester Zeit beseitigt werden. So konnten wir auch ältere Handwerker, Gesellen und fachfremde Meister dazu entwickeln Verantwortung zu übernehmen, ohne selber noch lange körperlich anspruchsvolle Arbeit leisten zu müssen. Durch weitere Kenntnisse und langjährigen Erfahrungen dieser Handwerker flossen weitere neue Kompetenzen in die Baustelle mit ein.
Natürlich muss man jedoch bedenken, dass sich ein Sanitärheizungsfachmann* niemals auf so eine Bauleiter*-Position beworben hätte. Hier ist es nötig aktiv sowohl das einstellende Unternehmen-, als auch den Kandidaten* davon zu überzeugen, dass existierende Schnittmengen für eine erfolgreiche Ausübung der Tätigkeit bereits ausreichen oder nur ein geringer Aufwand im Bereich der Qualifizierung notwendig ist.
In Zukunft wird es nicht leichter sein genau die Kandidaten zu finden, die man benötigt. Über die klassischen Wege, die den Recruitern in der Regel zur Verfügung stehen (StepStone & Co) erhalten Unternehmen dann doch weiterhin lediglich die Bewerber*, die proaktiv auf der Jobsuche sind. Das Recruiting von morgen muss sich verändern und wird ein anderes sein. Mitarbeiter werden zukünftig dort gefunden, wo sie nicht mit rechnen, in einem Kontext der eine neue Idee impliziert und neue Horizonte erschließt. Soft-Skill-Basiert. Ohne Lebenslauf.